Donnerstag, Dezember 10, 2009

Jean Ziegler über die Gründe für den "Hass auf den Westen" - Sehr empfehlenswertes Buch...

Der Schweizer Jean Ziegler erläutert in seinem eindrucksvollen neuen Buch die Gründe für den in den ärmeren Ländern der Welt verbreiteten "Hass auf den Westen".

Auf der Webseite "Telepolis" ist ein Interview mit Ziegler abgedruckt. Darin nennt er im Kern zwei Gründe für den seiner Meinung nach verständlichen Hass, den er von einem pathologischen Hass deutlich abgrenzt:

"Die erste Quelle ist das verwundete Bewusstsein. Das ist wie beim Holocaust, man weiß nicht, warum ein verwundetes Bewusstsein, ein fürchterliches Verbrechen, zwei, drei Generationen braucht, bis es zu Bewusstsein kommt. Dasselbe erleben jetzt die Völker des Südens. Die Sklaverei und das Kolonialmassaker sind zwei fürchterliche Wunden, die im Gedächtnis fortleben. Erst heute, Generationen nach diesen Massakern, wird dieses verwundete Gedächtnis zum politischen Bewusstsein.

Ich möchte Ihnen eine Anekdote erzählen, um das zu illustrieren. Im Dezember 2007 kommt der französische Staatspräsident Sarkozy zum ersten Mal nach Algier, um über Erdölverträge zu verhandeln. Die französische Delegation setzt sich an den Tisch im Präsidentenpalast von Algier. Bevor die Verhandlungen beginnen, steht Präsident Bouteflika auf und sagt: "Zuerst möchte ich eine Entschuldigung für Sétif!".

Sétif ist das fürchterliche Massaker, das die Fremdenlegion am 8. Mai 1945 an der algerischen Zivilbevölkerung begangen hat. Es hat über 42.000 Tote und Verwundete gekostet. Ganz verstört antwortet Sarkozy: "Ich bin nicht der Nostalgie wegen gekommen." Die Antwort von Bouteflika: "Das Gedächtnis vor den Geschäften!". Daraufhin gab es keine Verhandlungen. Die letzte Staatsvisite, die Bouteflika in Paris machen sollte, war im letzten Juli. Die wurde abgesagt, weil die Entschuldigung für Sétif immer noch nicht eingetroffen ist.

Die zweite Quelle des vernunftgeleiteten Hasses ist die permanente westliche Doppelzüngigkeit, wenn es um Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit geht. Ich bin Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates. Ich erlebe bei jeder Versammlung des Menschenrechtsrates diese westliche Verlogenheit. Auch Präsident Obama foltert weiter. In Bagram wird weitergefoltert. Er bekommt den Nobelpreis, während er zwei Kriege führt. Die Doppelzüngigkeit des Westens wird nicht mehr ertragen von den Völkern des Südens."

Und weiter:

"Immanuel Kant hat gesagt: 'Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.' Dieser moralische Imperativ ist der Motor einer neuen Zivilgesellschaft, die eine Welt nicht mehr tolerieren will, wo alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt. Diese Zivilgesellschaft ist in Deutschland sehr stark, von der Welthungerhilfe über Greenpeace bis zu attac. Der Aufstand des Gewissens wird kommen. Deutschland ist die lebendigste Demokratie in Europa. Es gibt keine Ohnmacht in einer Demokratie. Die Grundrechte gibt es, und die kann man brauchen, um unsere Regierung zu zwingen, auf das Agrardumping der EU in Afrika zu verzichten, die Schuldknechtschaft der Dritten Länder zu brechen, anstatt die Gläubigerinteressen der Deutschen Bank und der anderen großen Banken immer zu fördern. Ich bin ganz zuversichtlich, dass dieser Aufstand des Gewissens bei uns nahe bevorsteht."

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