Seestadtpresse Bremerhaven - Der israelische Journalist und
Schriftsteller Uri Avnery setzt sich sein Leben lang für einen Ausgleich
in Palästina und Israel ein. Seine >>>
Webseite "Der Frieden zwischen Israel und Palästina ist möglich" liefert vielfältige Belege dafür.
Der hier mit seiner ausdrücklichen Zustimmung veröffentlichte neue Text Uri Avnerys macht deutlich, wie wichtig eine
Unterscheidung zwischen den Rechtsextremen und den Friedenskräften im heutigen Israel ist. Dieser Text beantwortet auf berührende Weise die Frage, mit welchem Ziel ich mich mit Israel beschäftige.
Uri Avnery, Drei Frauen
DIES IST eine Liebeserklärung. Tatsächlich drei Lieben.
Ich
liebe Achinoam Nini. Ich liebe sie aus der Ferne. Ich bin ihr niemals
begegnet.
Ich liebe sie für das, was sie vor ein paar Wochen tat.
Vor
ein paar Wochen hatte die israelische Organisation der Komponisten und
Schriftsteller ihr einen Preis für ihr Lebenswerk verliehen. Obgleich
sie erst 44 Jahre alt ist, hat sie ihn sicherlich verdient. Sie ist eine
wunderbare Sängerin.
Noa (wie sie im Ausland genannt wird,) tat etwas sehr Ungewöhnliches: Sie verweigerte den Preis.
Ihr Grund ein anderer: der Sänger, Ariel Silber sollte dieselbe Auszeichnung erhalten.
Noa
ist eine unverblümte Linke. Silber gehört ausgesprochenermaßen zum
rechten Flügel. Ist dies ein Grund, einen Preis abzulehnen?
Durch
das Land ging ein Aufschrei. Wie kann sie es nur wagen? Wie ist es mit
der Redefreiheit? Wie ist es mit der künstlerischen Freiheit?
Der
rechte Flügel denunzierte sie lautstark. Diesem schlossen sich viele
rechtschaffene Linke an. Es stimmt – sagen sie – Silber ist ein
Rechter, aber die Demokratie verlangt „Redefreiheit gilt allen“, sogar –
und besonders – jenen, die anstößige Ansichten vertreten.
Sogar
der alte Voltaire wurde in den Streit verwickelt: „Ich missbillige das,
was du sagst, aber ich würde bis zum Tod dein Recht verteidigen, es zu
sagen.“
WAS HAT Silber gesagt, das Noa dahin brachte, sich zu weigern, mit ihm auf demselben Podium zu stehen?
Zuerst
wegen einer Sache: Er drückte seinen tiefen Hass gegen Homosexuelle
aus. „Ein Homo zu sein, ist eine Perversion“, erklärte er und verlangte,
dass sie aus der Gesellschaft ausgestoßen werden.
Nicht nur sie.
Auch alle säkularen Leute. „Die Säkularen haben nichts zu bieten, außer,
dass sie AIDS-krank sind und sich an nackten Frauen erfreuen. Pfui!“
Schwule,
Lesben und Säkulare sind nicht die einzigen Verdammten. Die Linken
können sogar schlimmer sein. „ Alle Linken sollten vertrieben und in die
Hölle gejagt werden. Sie sind Amalek“. Wie jeder Jude weiß, hat Gott
den Kindern Israels den Befehl gegeben, alle Amalekiter zu töten, so
dass ihr Name für immer gelöscht sein solle. König Saul, ein
Nationalheld, wurde vom Propheten Samuel vom Thron gestürzt, weil er
nicht alle amalekitischen Gefangenen, Männer, Frauen und Kinder, getötet
habe.
Aber dies ist nur ein Teil von Silbers Weltanschauung. Er
glaubt auch, dass Yigal Amir, der Mörder von Yitzhak Rabin, sofort aus
dem Gefängnis entlassen werden solle.
Er lobte Baruch Goldstein,
den Siedler, der 29 betende Muslime in der Hebroner Abrahams-Moschee
(von Juden die „Höhle Machpela“ genannt) mordete.
Er sympathisiert
auch mit den Rächern, den Ku Klux Klan-Siedlern, die nachts rausgehen,
um die wehrlosen arabischen Dorfbewohner zu terrorisieren. Sie tun
recht daran, weil „die Araber nichts wert" sind. Sie können nichts
anderes als töten.
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen,
proklamierte Silber: "Kahane hatte Recht.“ Rabbi Meir Kahane wurde vom
Obersten Gerichtshof Israels als Faschist verurteilt, und seine
„Kach“-Bewegung wurde verboten – ein fast einmaliges Urteil, was Juden
betraf. Um die Sache abzurunden: Silber schrieb und komponierte auch
ein Lied zu diesem Thema.
Verdient diese Person den Schutz der
Redefreiheit? Juden in aller Welt verurteilen die französische
Regierung, die den widerwärtigen Antisemiten, der sich selbst Donnedieu
M’bala M’bala (französischer Komiker) nennt, den Erfinder des Neo-Nazi
„grenelle“-Grußes. Aber dieser Demagoge ist ein Moderater, verglichen
mit Silber.
Sollte Noa auf demselben Podium mit dieser „Gabe
Gottes“ erscheinen? Oder, wenn sie vor drei Generationen in der
deutschen Weimarer Republik gelebt hätte, zusammen mit einem albernen
Demagogen Adolf Hitler? Und hätten unsere sensiblen Demokraten sie
wegen ihrer Weigerung verurteilt?
NUN ICH bewundere sie. Ihre Tat
war Selbstlosigkeit. Sie brachte ein großes Opfer mit dem, was sie tat.
Sie wird vom ganzen rechten Publikum boykottiert werden. Sie wird zu
Festspielen von Organisatoren nicht eingeladen, die das große Zittern
bekommen, wenn sie an den Verlust der Regierungszuschüsse denken.
Ich
erinnere mich, dass vor nur 45 Jahren nach dem Ausbruch der 1. Intifada
eine sehr große Demonstration für Frieden auf dem Platz stattfand, der
später der Rabin-Platz in Tel Aviv wurde. Praktisch alle Künstler waren
dort. Künstler stritten untereinander um ihr Recht, dort zu erscheinen.
Diese
Zeiten sind seit langem vergangen. Selbst wohl bekannte linke Künstler
sind jetzt ängstlich, ihre Meinung auszudrücken. Gott bewahre. Es könnte
sie in den finanziellen Ruin führen.
Woher fand Noa den Mut,
aufzustehen und sich zu weigern? Ihre beiden Eltern sind Jemeniten –
seltsam genug: Auch Silvers Mutter war Jemenitin. In meiner Jugend war
sie eine berühmte Sängerin. Es war eine Regel: Jemeniten – wie alle
orientalischen Juden - tendierten politisch zum rechten Flügel. Die
Lösung des Rätsels mag sein, dass sie in den US aufwuchs, wo ihr Vater
arbeitete. Da sie dort in den 70er und 80er-Jahren in jüdischen Schulen
aufwuchs, hat sie gewisse Werte aufgenommen.
Ich mag sie.
ICH LIEBE Anat Kim.
Anat
war Soldatin. Auf Grund ihrer militärischen Pflichten hatte sie Zugang
zu geheimen Dokumenten. Sie kopierte 2000 Dokumente, die offensichtlich
Kriegsverbrechen betrafen, die von israelischem Soldaten begangen
wurden. Sie gab sie einem Reporter von Haaretz. Die Zeitung
veröffentlichte den geheimen Bericht über einen solchen Vorfall.
Ermittlungsbeamte der Armee entdeckten die Quelle.
Nach fast zwei
Jahren Hausarrest wurde Anat zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt.
Nach einem Revisionserfahren, wurde diese auf vier Jahre reduziert.
Letzte Woche wurde sie nach zwei Jahren und zwei Monaten im Gefängnis,
auf Bewährung frei gelassen. Ein paar Tage später enthüllte sie ihre
gegenwärtige Meinung in einem Zeitungsinterview.
Es liest sich
gut. Anat ist sehr intelligent und aufmerksam. Die Beschreibung ihrer
Gefängniserfahrung ist lebendig und faszinierend. Es scheint, dass die
Gefängnisbehörden sie vergleichsweise gut behandelt haben. Bevor sie das
Gefängnis betrat, hatte sie große Angst, geschlagen oder vergewaltigt
zu werden. Doch die Insassen des Frauengefängnisses, wenn auch meistens
primitive Patrioten, achteten nicht auf ihre verräterische Vergangenheit
und mit wenigen Ausnahmen nahmen sie sich ihrer an. Frauen, die ihre
Kinder oder Liebhaber umgebracht hatten, baten um ihre Mithilfe beim
Schreiben von Petitionen. Anat scheint eine Person mit viel
Einfühlungsvermögen zu sein.
Sie ist gegenüber Haaretz und dem
Reporter verbittert, der, wie sie annimmt, aus Angst ihr Vertrauen
missbraucht hatte. Man könnte auch gegenüber dem Friedenslager im
Allgemeinen verbittert sein, das so ängstlich war, dass fast keiner
seine / ihre Stimme erhob, um ihre mutige Tat zu verteidigen.
Was mich traurig machte, ist ihre Reue. Sie erklärt in einem Interview, es tue ihr leid, was sie getan hat.
Ich
bin davon überzeugt, dass es ihr wegen des hohen Preises, den sie
zahlte, nicht leid tut. Im Alter von 28 Jahren muss sie ihr Leben neu
beginnen, gebrandmarkt als Verräter ihres Volkes. Vier kostbare Jahre
sind ihr gestohlen worden. Sie weigert sich, auszuwandern. „Warum sollte
ich? Dies ist meine Heimat!“erklärt sie.
Was sie ihre Tat
bedauern lässt, ist die Überzeugung, dass sie sinnlos war. Sie denkt,
dass ungleich den Enthüllungen ihrer amerikanischen Kameraden Edward
Snowden und Chelsea Manning, die die Welt veränderten, ihre eigene Tat
keine Früchte brachte. Sie hat nichts verändert.
Ich möchte ihrer
Überzeugung widersprechen. Es stimmt nicht. Mutige Taten wie diese, von
engagierten Leuten begangen, sind nie sinnlos. Sie sind vorbildlich.
Sie ermutigen andere. Sie sagen etwas über das menschliche Gewissen aus.
Sie säen eine Saat. Genau wie das Meer, das aus vielen Tropfen
besteht, bauen sich historische Veränderungen aus vielen, vielen
individuellen Taten auf.
„Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, verändern sie das Gesicht der Erde.“
ICH LIEBE Daphne Leef.
Sie
ist eine junge Frau – wie Anat, ist sie 28 Jahre alt – die wütend über
die hohe Miete, die von ihr verlangt wird, ein Zelt nahm und in einer
der Boulevards im Zentrum von Tel Aviv aufstellte, um darin zu leben.
Der Protest wuchs spontan und erreichte eine wie nie zuvor dagewesene
Massendemonstration von 400 000 Leuten.
Die Bewegung hatte eine
Auswirkung auf die Wahlen im letzten Jahr. Yair Lapid, eine
TV-Persönlichkeit, die nichts tat, um den Demonstranten zu helfen, aber
ihren Slogan aufnahm, gewann viele Stimmen bei der Wahl. Zwei von
Daphnis Mitdemonstranten wurden in die Knesset gewählt. Doch die
Öffentlichkeit hat Daphni selbst vergessen.
Ich sprach nie mit
ihr, wenn man von ein paar Worten während einer Demonstration absieht.
Ich kritisierte sie, dass sie große, nationale Probleme ignoriert, wie
die Besatzung, und sich auf den Preis von Wohnungen und Käse
konzentriert.
In dieser Woche erschien sie wieder – auf der
Anklagebank vor Gericht. Obwohl alle Demonstrationen streng gewaltfrei
gewesen waren, fand in einer von ihnen etwas Stoßen und Schubsen statt.
Die Polizei misshandelte Daphni; ihr Arm war verletzt. Aber wie
gewöhnlich, gab die Polizei Daphni die Schuld; sie habe Polizisten
angegriffen und die öffentliche Ordnung gestört.
Der Richter lehnte den Fall ab.
ICH
LIEBE diese drei Frauen, weil sie uns zeigen, dass wir in Israel
junge Leute haben, die ihrem Gewissen gehorchen. Sie machen uns stolz
darauf, Israelis zu sein.
Solange wir junge Leute dieser Art
haben, bereit, für Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit aufzustehen,
Risiken auf sich zu nehmen und persönliche Opfer zu bringen, hat Israel
eine Zukunft.
Für mich sind sie das wirkliche Israel.
(Übersetzung
aus dem Englischen von Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert. Der
Text erscheint in der Seestadtpresse mit persönlicher Autorisierung
durch Uri Avnery) (Die englische Fassung des Textes ist nach einem
>>>
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